Als der schwarzhumorige Krimi Fargo – Blutiger Schnee 1996 in die Kinos kommt, sind die Coens natürlich schon lange keine Unbekannten mehr. Schon ihr Debüt Blood Simple von 1984 konnte die Kritiker:innen begeistern. Aber mit Fargo steigen sie in eine neue Liga auf, in der sich Klassiker wie The Big Lebowski und No Country For Old Men aneinanderreihen. Fargo macht die Coen-Brüder von Indie-Darlings zu Major Playern in Hollywood, verschafft ihnen ihre erste Golden-Globe-Nominierung und markiert mit seinem Oscar-Gewinn (für das beste Drehbuch) den Einzug des Indie-Kinos in Hollywood. "Es ist das Jahr des Independent-Films", befindet auch Billy Crystal in seiner Eröffnungsrede der Preisverleihung 1997. "Großartige Performances, viele neue Gesichter unter den Nominierten. Ich meine, wirklich neue Gesichter. Wer seid ihr Leute?" Das alles schaffen die Coens nicht mit einem großen Epos oder einer mächtigen Inszenierung, sondern mit einer einfachen aber treffsicher geschriebenen, inszenierten und geschauspielerten Charakterstudie des Upper Midwest. Die ist so bodenständig wie skurril – und so gewaltsam wie herzlich. Das gefällt nicht allen, aber dazu später.
Wir erinnern uns erst einmal kurz an die Handlung dieses Krimis: Autoverkäufer Jerry Lundegaard (William H. Macy) heuert in Geldnot zwei Kriminelle (Steve Buscemi und Peter Stormare) an, die seine Frau entführen sollen, um ein saftiges Lösegeld von seinem wohlhabenden Schwiegervater (Harve Presnell) zu erpressen. Im Verlauf dieses Kidnappings geht aber etwa alles schief, was schiefgehen kann. Die Gangster hinterlassen eine Spur aus Leichen, und Polizeichefin Marge Gunderson (Frances McDormand) nimmt die Ermittlungen auf. Laut Vorspann handelt es sich hier um eine wahre Geschichte, die sich im Jahr 1987 zugetragen haben soll. Das ist natürlich Quatsch und lediglich ein Trick, um das Publikum zu manipulieren, wie die Coen-Brüder selbst bald zugeben.
Aber auch wenn die Geschichte nie genau so geschehen ist, ist sie doch irgendwie wahr: Fargo ist trotz aller Bissigkeit ein liebevolles Porträt der Heimat der Coens, die selbst aus Minneapolis stammen – ein Abbild der Menschen, mit denen sie aufgewachsen sind, angereichert mit Ereignissen aus verschiedenen Dekaden und Orten, die hier amalgieren. Irgendwie, irgendwo, irgendwann ist das alles passiert – nur eben nicht in dieser Konstellation.
Die Verbindung zum Mittleren Westen spürt man nicht nur in der Regie und dem Drehbuch der beiden: Für den schwedischen Schauspieler Peter Stormare, der den wortkargen Gauner Gaear Grimsrud spielt (er hat etwas weniger als 20 Zeilen Text im Film), erschaffen Fargo und die verschneite Gegend eine neue Verbindung zu seinem Heimatland, denn die Region hat eine beachtliche Zahl an skandinavischen Immigrant:innen, dank derer man auch schonmal über Ortsnamen wie Stockholm stolpert. Und William H. Macy sagt in einem Interview über den Mittleren Westen: "Ich glaube, wenn man Amerika sucht, findet man es genau da."
© Capelight Pictures
Die Charaktere und Ereignisse, die Ethan und Joel Coen in diese leere, endlos weiße und monochrom anmutende Szenerie setzen, sind zuweilen brutal und haben mit ihren Themen von Betrug, Täuschung und Mord das Zeug zum Neo-Noir-Hit. Doch das Duo entzaubert derartige Krimis und Thriller (nicht zum ersten Mal) mit der reinen Menschlichkeit seines Films. Fargo präsentiert uns keine unfehlbaren Killer mit fast übermenschlichen Skills und Instinkten, keine perfekten Verbrechen. Stattdessen gibt’s ein paar neurotische Wannabe-Gangster und -Big-Shots, die auch gerne mal etwas vorschnell zur Waffe greifen, sich bei ihren Plänen verzocken und generell einfach nicht die Hellsten sind. Das macht Fargo authentischer als jede Scorsese-Inszenierung. Der Film zeigt die Absurdität des Verbrechens, die Momente der Ungläubigkeit und Überforderung, die selbst Mord von seinem dramatischen Podest der großen Orchestrierung holen.
In der ursprünglichen Entführung, der anschließend eskalierenden Polizeikontrolle und der krönenden Holzhäcksler-Szene prallen Brutalität und Idiotie so hart aufeinander, dass man wenigstens aus Beklemmung oder Ungläubigkeit lachen muss. "Höfliche Kulturen sind für gewöhnlich am verklemmtesten und deswegen am gewalttätigsten", befindet Joel Coen mal über diesen Clash aus Barbarei und der vermeintlichen Midwestern-Freundlichkeit, -Zurückhaltung und -Gelassenheit. Die sind eben oft auch nur Camouflage für eine Ellbogengesellschaft, in der Leute sich nett anlächeln, während sie jemanden über den Tisch ziehen und anschließend noch höflich "Danke" sagen.
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Fargo ist berühmt für seine überbordende Verwendung des Minnesota-Nice-Stereotyps – eine Doku über den Film aus dem Jahr 2003 trägt sogar diesen Titel. Dem Klischee zufolge sind die Bewohner:innen des frostigen US-Bundesstaates, in dem große Teile von Fargo spielen (in Fargo selbst wurde übrigens nicht gedreht), merklich höflicher, freundlicher und reservierter als ihre Landsleute. Das sind Menschen, deren Idee eines Fluchworts "Oh, for Pete’s sake" lautet, die wirklich jeder Person ein herzliches "How are ya?" entgegenschmettern oder mit Fremden Small Talk über die nächste Schneefront anfangen. Diese Kultur des Anstands trieft aus jeder Szene von Fargo, entpuppt sich aber schnell als reiner Reflex und schöner Schein, nicht zuletzt aufgrund von Jerry Lundegaard. Er ist ein heuchlerischer, vor Frustration fast platzende Loser. Ein hinterlistiger "Entschuldigung, ja, bitte, danke"-Typ mit Saubermann-Image. Mit Minnesota Nice gehen auch ein ganz besonderer Akzent und eine Ausdrucksweise einher, die vor allem von William H. Macy und Frances McDormand auf die Spitze getrieben werden und sich quasi zu einem eigenständigen Protagonisten entwickeln. Ganze Dialoge bestehen gefühlt nur aus "Yah" oder "Yah, you betcha". Dank des komödiantischen Spitzentimings und Zusammenspiels des Casts und der musikalischen Melodieführung dieses Akzents bekommen Dialoge à la "Yah" – "Is that so?" – "Yah, you betcha" eine geradezu musikalische Qualität.
Das Alles hat das Zeug zur Karikatur – und tatsächlich fühlen sich einige Einwohner:innen des Upper Midwest von dieser Charakterisierung veralbert oder lächerlich gemacht. Mit seinen einfach gestrickten Figuren und teils stumpfen Konversationen mag Fargo, besonders aus deutscher Sicht, ein gewisses Hinterwäldler-Klischee erfüllen. Ethan und Joel Coen stecken jedoch viel zu viel Herzblut und Faszination in ihre überzeichneten Charaktere, um bloß auf sie herabzuschauen – und casten dann noch Menschen wie Frances McDormand, die Marge Gunderson nicht nur mit einer Ehrlichkeit und Wärme spielt, wie nur sie es kann, sondern aus ihr einen lebhaften Charakter macht, der sich zur Seele des Films entwickelt. Mit ihrem Glauben an das Gute im Menschen mag sie leichtgläubig und naiv wirken, aber sie hat auch eine beeindruckende Auffassungsgabe, lässt sich nichts gefallen und ist die einzig kompetente Person in diesem ganzen Film, ebenso wie sein moralischer Kompass. McDormand kriegt für diese Performance ihren ersten Oscar, und nicht nur in der Awards-Saison gibt es für Fargo ein Happy End: Die Coens lassen ihre Todes-Satire versöhnlich enden – die Bösewichte bekommen ihre Bestrafung, und es bleibt das kleine heimische Glück der Gundersons, das das Blut von uns abwäscht und uns rein hinterlässt wie eine weiße Schneelandschaft.
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"Es hat den Look und Feel eines sanften Films", befindet William H. Macy mal. "Sie [Ethan und Joel Coen] gehen so zart mit allen Charakteren um; sogar Stormare und Buscemi werden mit so viel Fingerspitzengefühl und Zuneigung behandelt. Es ist also ein sanfter Umgang mit einer brutalen Geschichte." Damit ist Fargo ein quintessenzieller Coen-Film, denn diese Art von Charakteren und Dynamiken greifen sie in ihren Filmen immer wieder auf – zuletzt in Ethan Coens Solo-Spielfilmdebüt Drive-Away Dolls von 2024. Und dann ist da natürlich noch die sehr erfolgreiche gleichnamige Serie, die uns seit 2014 verschiedene Geschichten aus dem etablierten Universum präsentiert: Fargo umfasst mittlerweile fünf Staffeln, wird regelmäßig mit Preisen überschüttet und pflanzt Hollywood-A-Lister wie Martin Freeman, Kirsten Dunst und Ewan McGregor in die Schneelandschaften des Upper Midwest. Allein das kann sich als Vermächtnis und Hommage an dieses unscheinbare und doch besondere Fleckchen Erde schon ordentlich sehen lassen.
Fargo läuft am 4. März in ausgewählten Kinos in der Reihe "Best of Cinema". Alle weiteren Infos gibt’s hier.
Christina Wenig