In Zeiten des Corona-Lockdowns, der 2020 bislang bestimmt, machen Bilder von leergefegten Orten die Runde. Ob Dörfer oder Städte – überall bleiben die Leute zuhause und die Straßen sind beinahe menschenleer. Jim Jarmusch beweist in seinen Filmen ja schon immer ein Faible für die urbane Kulisse. So wie er sich für einzelne Figuren interessiert, ist Jarmusch auch fasziniert von Architektur– und knüpft anhand von zahllosen künstlerischen Referenzen ungeahnte Verbindungen. Was wäre der Vampirfilm Only Lovers Left Alive ohne die verlassenen Ruinen Detroits und deren Geschichte. Ohne Jarmuschs Neugier und sein gesammeltes Wissen?
Night on Earth aus dem Jahr 1991 ist ein Superbeispiel für das, was das Herz von Jim Jarmuschs Werk ausmacht. Der Episodenfilm galt sofort als Klassiker des Indie-Kinos und erscheint knapp 30 Jahre später noch topaktuell. Es geht um kurze Abstecher während endloser Sinnsuchen. Nächtliche Spaziergänge oder Taxifahrten durch weniger belebte Großstädte wie Los Angeles, New York, Paris, Rom oder Helsinki können sich lohnen. Sie lassen einen die Umgebung meist mit anderen Augen sehen – das gilt für jeden Ort der Welt, an dem sich normalerweise ein paar mehr Menschen tummeln. Der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt hat zu diesem Zweck eigens die Spaziergangswissenschaft oder Promenadologie begründet. Flaneure bevölkern die Weltliteratur. Regisseure wie Wim Wenders widmen ihr Lebenswerk dem Unterwegssein. Zugegeben, die Charaktere in Night on Earth erscheinen arg egozentrisch. Allerdings sind sie kurz zusammen "eingesperrt" und kommen so zwangläufig ins Gespräch. Im Vorbeifahren nehmen wir auch noch die Besonderheiten der Städte mit. Und wenn der Deutsche Helmut in der New Yorker Episode "Brookland" statt Brooklyn sagt? Dann scheint in der verträumten Naivität des Clowns eine Art zärtliche Fremdheit auf, wie sie sonst nur den Blicken staunender Kinder innewohnt. Die Schönheit von Angela – der Schwägerin seines Kunden –ist für ihn genau so umwerfend wie die der Brooklyn Bridge.
Ein unvergesslicher Trip durch New York
Night on Earth steckt voller Lieblingsszenen. Der römische Taxifahrer, der auf Wunsch des Pfarrers die Sonnenbrille auszieht und zur eigenen Überraschung plötzlich besser sehen kann. Die drei besoffenen Finnen, die im Stehen schlafen und durch Mikas Hupen aufgeschreckt werden. Corkys Hollywood-reife Kaugummiblase in L.A. Das spöttische Lächeln der Blinden, als der Pariser Chauffeur nicht ihre Route fahren will. Dargestellt von Schauspieler*innen wie Roberto Benigni, Winona Ryder, Béatrice Dalle, Isaach De Bankolé oder Matti Pellonpää. Aber wir haben uns für die Abschiedsszene zwischen Helmut und Yoyo entschieden, denen Armin Mueller-Stahl und Giancarlo Esposito eine Menge Leben einhauchen. Ein Clown, der nicht Auto fahren kann, am Steuer eines Taxis – das ist schon bittersüß. Aber als Helmut nach links statt wie von Yoyo empfohlen nach rechts abbiegt, um heimzukommen, wird Jarmuschs Sympathie für Freaks und abseitige Pfade deutlich: Es sind die Umwege, die das Leben interessant machen. Manchmal muss man sich durch die "Good Old World" treiben lassen, die hier von Tom Waits so eindringlich besungen wird, sonst lernt man nichts Neues mehr. Diese Welt ist ja selbst ständig in Bewegung. Irgendwie ein tröstliches Bild zurzeit.
WF