Im Sommer 1984 schreibt François Truffaut an den Verlag Robert Laffont folgende Zeilen: „In meinem gegenwärtigen Leben als Genesender denke ich oft an meine Kindheit und Jugend, die dreißiger, vierziger, fünfziger Jahre. (...) Weder weiß ich, was der Film, noch was meine Gesundheit für mich bereithalten, aber ich beabsichtige, meine Reiseschreibmaschine zu entstauben und eine Autobiografie mit dem Titel ‚Das Drehbuch meines Lebens’ anzufangen.“ Zu diesem Zeitpunkt hat Truffaut bereits eine schwere Gehirnoperation hinter sich. Die Aussichten sind nicht gut, Truffaut fühlt sich schwach und beginnt – seinen nahen Tod wohl vorausahnend –, die vielen Dossiers, Briefe und Tagebücher, die er im Laufe seines Lebens verfasst hat, zu sichten. Doch selbst für die Abfassung des Manuskriptes hat Truffaut keine Kraft mehr, das Schreiben fordert zu viel Konzentration. Gemeinsam mit seinem Freund und langjährigen Co-Autor Claude de Givray beginnt Truffaut deshalb ein zweitägiges Tonbandinterview.
Der letzte Dialog dieses Gesprächs bezieht sich einmal mehr auf Antoine Doinel, Truffauts prominenteste Filmfigur, der er in zwei Jahrzehnten fünf Filme gewidmet hat: „Die Ausrede [des jungen Doinel] in der Schule ‚Meine Mutter ist gestorben’, (...) diese Ausrede hast du selbst in Wirklichkeit doch nicht gebraucht“, fragt Givray. Truffauts Antwort lautete: „Doch, doch, das habe ich! Das war 1943.“
François Truffaut, seine Filmfigur Antoine Doinel und der ihn verkörpernde Schauspieler Jean-Pierre Léaud bilden eine in der Filmgeschichte einzigartige Symbiose. Der Regisseur entwirft ein filmisches Alter Ego, das durch die Ausstrahlung seines jungen Darstellers ein prägnantes Gesicht in den fünf Episoden des Antoine-Doinel-Zyklus bekommt: Sie küssten und sie schlugen ihn (1959), Antoine und Colette (1962), Geraubte Küsse (1968), Tisch und Bett (1970) und Liebe auf der Flucht (1978).
Dass Truffaut seiner Filmfigur vor allem autobiografische Erlebnisse in die fiktionale Vita schreibt, hat grundsätzlich mit seinem Nachdenken über Film zu tun. In seinem berühmt gewordenen Artikel „Eine gewisse Tendenz im französischen Film“, der erstmals 1954 in den „Cahiers du Cinéma“ erscheint und bald als das Manifest der aufkommenden Nouvelle Vague gelten wird, kritisiert Truffaut – noch als polemischer Kritiker und nicht als Regisseur – den linken Intellektualismus des zeitgenössischen französischen Films: „Es ist instruktiv, sich das Filmprogramm von Paris daraufhin anzusehen, welche Filme in welchen Stadtvierteln gezeigt werden. Man stellt fest, dass das Arbeiterpublikum vielleicht die kleinen, naiven ausländischen Filme vorzieht, die ihm die Menschen zeigen, ‚wie sie sein sollten’, und nicht so, wie Aurenche und Bost [zwei zeitgenössische französische Drehbuchautoren] glauben, dass sie sind.“
Truffaut fordert den unverstellten Blick ins Leben und wendet sich vehement gegen die Vereinnahmung literarischer Vorlagen und die vermeintlich verständnisvolle Sicht gutbürgerlicher Filmemacher auf das „wahre“ Leben der Straße. Dieser Art Film kündigt er das baldige Ende an – und zwar durch das Publikum: „An diesem Tag wird es sich möglicherweise undankbar erweisen einem Film gegenüber, der soviel Mühe darauf verwandt hat, ihm das Leben so zu zeigen, wie man es von einer vierten Etage in Saint-Germain-des-Prés [das Viertel der Intellektuellen in Paris] ansieht.“ Truffaut will Doinel nicht erfinden, sondern aus wahren Begebenheiten, mithin aus seinen eigenen Erfahrungen formen.
Nach Beendigung der vierten Episode des Filmzyklus illustriert Truffaut 1971 in einem Aufsatz (übersetzt von Robert Fischer) diese Identitätsvermischung mit einer beispielhaften Anekdote: „[Ich] betrete (...) ein Bistrot, in dem ich noch nie in meinem Leben gewesen bin, und der Wirt ruft mir zu: ‚He! Sie kenne ich doch, ich hab’ Sie gestern Abend im Fernsehen gesehen!’ Dabei war es eindeutig nicht ich, den der Wirt auf dem Bildschirm gesehen hatte, sondern Jean-Pierre Léaud in der Rolle des Antoine Doinel. Ich sitze also in diesem Bistrot, antworte dem Wirt weder mit ja noch mit nein, da ich es nie eilig habe, ein Missverständnis aus der Welt zu schaffen, und bestelle einen starken Kaffee. Der Wirt bringt ihn mir, und als er neben mir steht, betrachtet er mich genauer und meint: ‚Muss schon eine Weile her sein, dass Sie diesen Film gedreht haben, was? Da waren Sie jünger ...“
Sie küssten und sie schlugen ihn © Kinowelt GmBH
Vier Jahre nach der Veröffentlichung seines Artikels „Eine gewisse Tendenz im französischen Film“ entscheidet François Truffaut 1958, seinen ersten eigenen fiktionalen Langfilm zu realisieren. Bisher hat sich der scharfzüngige Kritiker lediglich mit dem Kurzfilm Les Mistons (1957) als Regisseur hervorgetan. Auf der Suche nach einem geeigneten Stoff stößt Truffaut auf eine frühe Filmidee unter dem Namen Antoines Flucht, die er als Teil eines Episodenkinderfilms konzipiert hatte. Kern dieser Episode ist Truffauts Kindheitserinnerung an einen geschwänzten Schultag, den er vor seinem Lehrer mit dem angeblichen Tod seiner Mutter rechtfertigte. Diese Episode erweitert Truffaut nun um andere Erlebnisse aus seiner Jugend, hat jedoch Schwierigkeiten die Fülle des Materials in dramaturgischer Hinsicht zu bewältigen und wendet sich deshalb an den erfahrenen Drehbuchautor Marcel Moussy. Doch der hat bereits andere Angebote. Truffaut schreibt daraufhin vollmundig folgende Zeilen: „Ich werde dafür sorgen, dass Sie durch Ihre Mitarbeit an meinem Film ebensoviel verdienen wie mit einem der anderen, vielleicht weniger interessanten Aufträge, die Sie deswegen ablehnen müssen; ich bin sehr gespannt auf Ihre Antwort; ich rufe Sie Mittwochvormittag an.“ Moussy sagt zu. In nur wenigen Wochen gelingt es, eine erste Drehbuchfassung zu erarbeiten.
Das Produktionsbudget wird durch Truffauts Schwiegervater bereitgestellt, der als Produzent und Filmverleiher durch einen Tipp des Schwiegersohns gerade eine große Summe Geld mit dem Verleih eines sowjetischen Films verdient. Madeleine, Truffauts damalige Frau, erinnert sich viele Jahre später im Gespräch mit den Truffaut-Biografen Antoine de Baecque und Serge Toubiana an diese Tage: „Mein Vater achtete François, und er schätzte seine Intelligenz, aber von ‚Les Mistons’ war er nicht begeistert. Und ‚Sie küssten und sie schlugen ihn’ produzierte er, um uns finanziell unter die Arme zu greifen, weil er dem Mann seiner Tochter eine Chance geben wollte, seine Fähigkeiten als Filmemacher unter Beweis zu stellen.“
Diese „familiären“ Produktionsbedingungen bringen Truffaut auch Spott und Kritik ein. Doch der junge Regisseur lässt sich nicht beirren und konzentriert sich ganz auf seine Arbeit. Inhaltlich ist Truffaut von seinem Sujet überzeugt: „Wenn ich mich dafür entschied, die Einsamkeit eines Kindes auszudrücken, dann deshalb, weil die Kindheit noch nicht sehr weit von mir entfernt ist. Der Wahrheit des Kindes gegenüber empfinde ich noch eine große Sensibilität; ich bin sicher, sie zu kennen.“
So werden Truffauts Kinderfreundschaften und Lehrer, vor allem aber seine eigenen Familienverhältnisse zur Vorlage für Antoine Doinels Schicksal. In den ersten Jahren bei den Großeltern aufgewachsen, ohne den eigenen Vater je kennengelernt zu haben, kommt Truffaut respektive Doinel spät zu seiner Mutter und einem Stiefvater. Ein geordnetes Familienleben ist für beide unmöglich. Selbst kleine Erzählmomente entlehnt Truffaut aus seiner Vergangenheit, so z.B. den Diebstahl der Schreibmaschine oder das Gespräch mit der „Spychologin“. Der Gedanke, der Truffaut während dieser Arbeit stets leitet, ist, „eine Chronik des Heranwachsens zu skizzieren, diese aber nicht mit der üblichen nostalgischen Süße zu präsentieren, sondern im Gegenteil als eine schlimme Phase, die man durchzustehen hat.“ Denn, so Truffaut: „Als ich dreizehn Jahre alt war, hatte ich es sehr eilig erwachsen zu werden, um endlich alle Arten schlimmer Dinge zu tun und dafür nicht bestraft zu werden. Es schien mir, dass das Leben eines Kindes nur aus Verstößen besteht und das eines Erwachsenen nur aus Versehen.“
Für die Rolle des Antoine castet Truffaut aus sechzig Bewerbern den vierzehnjährigen Jean-Pierre Léaud: „Viele dieser Kinder waren aus reiner Neugier gekommen oder auf Antrieb ihrer Eltern. Jean-Pierre Léaud unterschied sich von ihnen, er wollte die Rolle mit aller Macht, er strengte sich an, entspannt und witzig zu wirken, aber in Wahrheit war er vom Lampenfieber gepackt, und mir bleiben von dieser Begegnung vor allem seine Angst und seine Intensität im Gedächtnis.(...) Bei der ersten Kameraprobe sagte er in die Kamera: ‚Hab’ gehört, Sie suchen jemanden mit einer großen Klappe, also: Hier bin ich!’ Im Gegensatz zu Doinel las Jean-Pierre sehr wenig; er verinnerlichte die Dinge zwar und machte sich zweifellos heimlich seine Gedanken, aber er war bereits ein Kind des audiovisuellen Zeitalters, das heißt, er hätte eher eine Schallplatte von Ray Charles gestohlen als die Klassiker der französischen Literatur.“
Als ein angespannter, von Selbstzweifeln geplagter Truffaut seinen Freunden und Kritikerkollegen der „Cahiers du Cinéma“ Anfang 1959 Sie küssten und sie schlugen ihn präsentiert, sind diese begeistert. Truffaut ist erleichtert, hat er doch als Regisseur bewiesen, was er als Kritiker den Filmemachern des „französischen Qualitätskinos“ oft genug abgesprochen hat. Der Ritterschlag für den Vorreiter der Nouvelle Vague folgt im April, als die Auswahlkommission der Filmfestspiele in Cannes Truffauts Film als offiziellen Beitrag Frankreichs einlädt. Wenige Tage später jubiliert Jean-Luc Godard in einem Artikel der Zeitschrift „Arts“: „Heute haben wir einen Sieg davongetragen. Es sind unsere Filme, die in Cannes beweisen werden, dass Frankreich, kinematografisch gesehen, einen durchaus hübschen Anblick abgibt. Und so wird es auch im kommenden Jahr wieder sein. (...) Denn wir haben zwar eine Schlacht gewonnen, doch der Krieg ist deshalb noch nicht vorbei.“
Antoine und Colette © 1962 ULYSSE PRODUCTIONS 2001 MK2 SA. All rights reserved.
„Ich habe oft daran gedacht, eine Fortsetzung zu Sie küssten und sie schlugen ihn’ zu drehen“, erinnert sich Truffaut Anfang der 1970er-Jahre. „Und wenn ich es zunächst doch nicht gemacht habe, dann weil ich nicht den Eindruck erwecken wollte, einen Erfolg auszubeuten. Danach habe ich es oft bedauert, dass ich mich von dieser Befürchtung leiten ließ, und als sich mir 1962 die Gelegenheit bot, den französischen Beitrag zu dem internationalen Episodenfilm Liebe mit zwanzig zu drehen, habe ich diese Chance dazu benutzt, Antoine Doinel auf die Leinwand zurückkehren zu lassen.“
Pierre Roustang, Produzent und Drehbuchautor, möchte Anfang der 1960er-Jahre mit fünf jungen Regisseuren einen Episodenfilm zum Thema „Jugend und Liebe“ produzieren und fragt auch bei Truffaut an. Zum einzigen Mal in seiner Filmkarriere nimmt Truffaut eine Auftragsarbeit an. Die Regisseure der anderen vier Episoden sind Andrzej Wajda, Shintarô Ishihara, Marcel Ophüls und Renzo Rossellini. Truffaut entscheidet, in seiner Episode Antoine Doinel während der Zeit seiner ersten großen Liebe zu zeigen und wählt wieder die lebensnahe, „dokumentarfilmähnliche Art und Weise“ des Vorgängerfilms. Nur ist im Gegensatz zu Sie küssten und sie schlugen ihn diesmal vieles improvisiert. Truffaut gibt nur Eckpfeiler einer Geschichte vor: Antoine, der Musikliebhaber, trifft auf ein Mädchen, das die Musik ebenso liebt wie er. Hals über Kopf verliebt sich Antoine in das Mädchen und tut alles, um es zu gewinnen. Seine Liebe wird jedoch nicht erwidert.
Diese Grundlage ist erneut autobiografisch. Truffaut bemüht hier die Erfahrungen seiner unerfüllten Liebe zu einem jungen Mädchen zu Beginn der 1950er-Jahre. Unter dieser Prämisse entwickelt Truffaut auch gemeinsam mit seinen jungen Schauspielern Jean-Pierre Léaud und Marie-France Pisier (als Colette) die Details der knapp 30-minütigen Episode und improvisiert während des Drehs. „[Antoine] freundet sich mit den Eltern des Mädchens an – und verliert dadurch das Mädchen“, resümiert Truffaut später. „Das ist eine grausame Geschichte, aber ich habe mir Mühe gegeben, sie mit Leichtigkeit zu erzählen.“ In Sie küssten und sie schlugen ihn zeichnet Truffaut die Charaktere der Erwachsenen oft noch als düstere Täter. Um das zu kompensieren „hatte ich diesmal sympathische Erwachsene – keine Rede mehr von dem Jungen und seiner Familie, stattdessen zeigen wir die Eltern des Mädchens – und diese Familie ist anders, eine Familie, die ganz gut miteinander auskommt“, so Truffaut. „Das ist der Grund, warum ich diesen Film vielleicht sogar lieber mag. Er ist beschwingter und gleichzeitig einfach. Ich glaube, er ist noch näher am Leben.“
Geraubte Küsse © 1962 ULYSSE PRODUCTIONS 2001 MK2 SA. All rights reserved.
Wenige Wochen vor den Pariser Mai-Unruhen 1968 dreht Truffaut mit Geraubte Küsse den dritten Teil seines Zyklus – neun Jahre nach Sie küssten und sie schlugen ihn und sechs Jahre nach Antoine und Colette. Wieder kehrt Truffaut in das Viertel seiner Kindheit um den Place de Clichy zurück und erzählt dort Antoines Versuche, nach dem Rauswurf aus der französischen Armee im zivilen Leben Platz zu finden. Anstatt sich aber einen politisch engagierten Pariser Studenten oder Arbeiter jener Zeit zum Vorbild zu nehmen, entwirft Truffaut mit dem zum Mann gereiften Antoine Doinel das Bild eines jungen Außenseiters. „Truffaut [schafft] eine Figur wie aus einer anderen Zeit, eine Figur, die anachronistisch und romantisch ist, unfähig sich dem Leben anzupassen oder einen vernünftigen Beruf zu ergreifen“, schreiben die Truffaut-Biografen de Baecque und Toubiana.
„Als wäre alle Inspiration des Regisseurs auf die Vergangenheit, auf seine eigenen Erinnerungen an die Jugend ausgerichtet.“ Tatsächlich bedient sich Truffaut wieder aus seiner eigenen Vita, wenn er etwa Doinel aus der Armee ausscheiden und durch Bordelle ziehen lässt. Die politische Unaufgeregtheit, das Unbeispielhafte der Figur ist dabei erzählerisches Prinzip. Einige Jahre nach den Dreharbeiten zu Geraubte Küsse schreibt Truffaut: „Doinel stellt sich nicht offen der Gesellschaft entgegen, und von daher ist er sicher kein Revolutionär, aber er geht seinen Weg am Rande der Gesellschaft, der er misstraut, und er möchte von denen akzeptiert werden, die er liebt und bewundert, denn sein guter Wille ist total. Antoine Doinel ist nicht das, was man eine exemplarische Figur nennt, er besitzt Charme und weiß ihn einzusetzen, er lügt viel, er verlangt mehr Liebe, als er selbst geben kann, er steht nicht stellvertretend für alle Männer, er ist ein ganz besonderer Fall von Mann. Antoine Doinel liebt das Leben, er liebt es vor allem, kein Kind mehr zu sein, das heißt, nicht mehr jemand zu sein, über den man verfügt, ohne ihn um seine Meinung zu fragen, den man beiseite lässt, den man vergisst und den man grausam zurückweist.“
Truffaut sammelt bereits während der 1960er-Jahre Material für einen dritten Doinel-Film und will seine Figur im Journalistenmilieu ansiedeln. Diese Idee verwirft er 1967 als „zu literarisch“ und beauftragt seine Freunde Claude de Givary und Bernard Revon mit Recherchen in verschiedenen Berufswelten. Vor allem begeistert Truffaut die Idee, aus Doinel einen Privatdetektiv zu machen: „Auf dem Umschlag eines Telefonbuchs [sprang uns] eine Anzeige ins Auge: ‚Agentur Dubly – Ermittlungen, Beschattungen, Nachforschungen’. In der Tat bot uns der Beruf des Privatdetektivs, der ‚näher am Leben’ ist als der des Geheimagenten, einen Rahmen, innerhalb dessen wir alle Ideen verarbeiten konnten, die wir im Kopf hatten.“
Die erste Drehbuchentwurf begeistert wenige Produzenten, so dass Truffaut mit seinen beiden Freunden eine neue Fassung entwirft, die er als ein flexibles Gebilde, in der die Improvisation „das letzte Wort haben kann“, bezeichnet. Die Geschichte und auch die Drehbedingungen kann er dadurch relativ frei variieren und seinen Film trotz kleinem Budget letztlich produzieren. Die Möglichkeit der Improvisation nutzt vor allem der nun 23-jährige Jean-Pierre Léaud, der seit seiner letzten Doinel-Darstellung als Schauspieler gereift ist und inzwischen mit vielen namhaften Regisseuren zusammen gearbeitet hat. Seine Angebote für Gesten, Verhaltensweisen, Anekdoten und Erinnerungen erweitern den Charakter Antoine Doinels enorm. Truffaut ist begeistert, ermutigt seinen Schützling und vermischt damit weiter die drei Identitäten Doinel, Léaud und Truffaut.
In einer Hinsicht jedoch verweist Geraubte Küsse auf die Umstände der Zeit und ist damit auch ein „engagierter“ Film. Zwei Tage nach Beginn der Dreharbeiten wird Henri Langlois, der Gründer und langjährige Direktor der berühmten „Cinémathèque Française“ durch ein Ränkespiel des französischen Kulturministers André Malraux von seinem Posten entbunden. Langlois ist Filmliebhaber und sammelt seit 1935 alles, was mit Film und Kino in Verbindung steht – von Filmkopien bis Requisiten. Langlois’ archivarisches Vorgehen ist unorthodox chaotisch, und auch Truffaut stimmt mit so manchen Allüren des eigensinnigen Langlois nicht überein. Doch für die jungen Regisseure um Truffaut ist dieser Mann eine Institution, der sie durch seine Schätze stark inspiriert hat.
Parallel zu seinen Dreharbeiten organisiert Truffaut deshalb mit nationalen wie internationalen Filmemachern den Widerstand: „Von diesem Moment an führte ich zwei Leben, eines als Regisseur und eines als militanter Agitator, ich hing zwischen dem Drehen zweier Einstellungen ständig am Telefon, alarmierte die Presse im Ausland, rief mit meinen Freunden das ‚Komitee zur Verteidigung der Cinémathèque’ ins Leben und riskierte, die Vorführung meiner eigenen Muster zu verpassen.“ Truffaut widmet Geraubte Küsse daraufhin Henri Langlois und zeigt mit den ersten Bildern seines Films die geschlossenen Tore der Cinémathèque am Palais Chaillot. Der von Truffaut organisierte Widerstand zeigt kurze Zeit später Erfolg und der gerührte Langlois wird erneut Direktor.
„Die Premiere von Geraubte Küsse fand logischerweise in der Cinémathèque statt“, so Truffaut. „Am Ende der Vorführung sagte Henri Langlois zu mir: Lassen Sie uns diesmal nicht so lange auf die Fortsetzung warten, ich will diese beiden [Antoine und Christine] wiedersehen, und zwar als Ehepaar!“
Tisch und Bett © Kinowelt GmBH
Truffaut lässt seine Zuschauer nicht lange warten. Bereits zwei Jahre nach Geraubte Küsse erscheint mit Tisch und Bett der vierte Teil seines Antoine-Doniel-Zyklus. Den Hinweis Langlois’ nach der Premiere von Geraubte Küsse verfolgend denkt Truffaut über eine Ehe zwischen Antoine und Christine (Claude Jade) nach. Wieder gemeinsam mit seinen zwei Freunden de Givary und Revon beginnt er, die Geschichte auszuarbeiten. Zwar soll der Film erneut unverkennbar französisch in seiner Atmosphäre und Gefühlslage sein, doch lassen sich die drei bewusst von US-amerikanischen Ehekomödien inspirieren.
Denn Truffaut möchte die Geschehnisse diesmal so erzählen, dass das Publikum tatsächlich über sie lachen kann, sind doch die bisherigen Doinel-Filme in seinen Augen in dieser Hinsicht gescheitert: „Wenn sie beendet sind, merke ich, dass meine Filme immer viel trauriger sind, als ich beabsichtigt hatte. (...) ‚Geraubte Küsse’ sollte eigentlich ein komischer Film werden.“ Truffaut will mit Tisch und Bett den Antoine-Doinel-Zyklus abschließen, nennt den Film auch eine „Abrechnung“. Er ist überzeugt, dass eine Fortführung der Antoine-Figur für Jean-Pierres Léauds Karriere nur hinderlich wäre.
Truffaut ist seinem Schützling auch menschlich so sehr verbunden, dass er ihn „befreien“ will. Léaud, der Antonie Doinel tatsächlich oft als Last empfindet, hat sich jedoch bereits von seinem Ziehvater gelöst, indem er vor allem mit Jean-Luc Godard arbeitet und dessen linkspolitisches Engagement teilt. Retrospektiv sieht Truffaut seine „Abrechnung“ auch kritisch: „Ich habe den Eindruck, dass ich in ‚Tisch und Bett’ sehr streng mit Antoine Doinel umgegangen bin. (...) Das liegt vermutlich daran, dass wir es (...) nicht mehr mit einem Heranwachsenden, sondern mit einem Erwachsenen zu tun haben, und dass ich mit Erwachsenen weniger zärtlich umgehe als mit Halbwüchsigen.“
Die Dreharbeiten zu Tisch und Bett verlaufen zäh. Im Drehbuch steht, dass die Kostüme „frühlingshaft sein müssen“, doch die Temperaturen liegen teilweise unter null, da Truffaut bereits Ende Januar 1970 mit den Außenaufnahmen beginnt. Die Schnelligkeit des Drehens ist für viele ungewohnt, aber von Truffaut beabsichtigt. Um seinem Anspruch einer unbeschwerten Komödie gerecht zu werden, bedient er sich eines inszenatorischen Mittels von Frank Capra, dessen Filme er im Vorfeld noch einmal studiert.
„[Truffaut] ließ die Länge einer Einstellung stoppen, und wenn sie zwanzig Sekunden dauerte, sagte er: ‚Und jetzt drehen wir das noch einmal in zehn Sekunden.’ Die Schauspieler sprachen nun wie Schnellfeuergewehre, oft behielt er dann diese Schnellschussversion“, erinnert sich Kameramann Néstor Almendros.
Truffaut kann seinem Film so den schnellen Rhythmus einer US-amerikanischen Komödie verleihen. Nach der Premiere wird in den Kritiken wiederholt der Vorwurf laut, dass Truffaut aus seiner einzigartigen Figur Antoine Doinel einen Spießer gemacht hätte. Truffaut reagiert gelassen darauf und verweist auf eine Szene im Film, die seine Perspektive als Filmemacher auf die alternde Figur Doinels widerspiegelt: „In einer der ersten Szenen trifft einer seiner alten Kumpel vom S.O.S.-Pannendienst Antoine, wie er in einem Innenhof Blumen färbt. Er erfährt, dass er mit einer jungen Violinistin verheiratet ist, und sagt: ‚Im Grunde hast du dich schon immer für die wohlerzogenen Spießertöchter interessiert.’ Und Antoine antwortet ihm: ‚So habe ich das nie gesehen. Ich liebe die Mädchen, die nette Eltern haben, ich mag die Eltern der anderen.’“
Für gewöhnlich lässt Truffaut die nicht verwendeten Reste seiner Filme nach deren Fertigstellung im Kopierwerk vernichten – ein normaler Vorgang im Filmgeschäft. Mit den Mustern von Tisch und Bett verfährt er jedoch ebenso wie bei allen vorangegangenen Doinel-Filmen: „Beim Doinel-Zyklus kann ich mich nie dazu durchringen, denn ich habe den Eindruck, dass das Filmmaterial, das Jean-Pierre Léaud gewidmet ist und ihn jedes Mal in einer Phase seiner physischen Entwicklung festhält, viel wertvoller ist, als wenn es sich um einen erwachsenen Hauptdarsteller handelt.“
Liebe auf der Flucht © Kinowelt GmBH
Bevor Truffaut 1978 – somit acht Jahre nach Tisch und Bett – die Dreharbeiten zu einer weiteren, diesmal tatsächlich finalen Episode seines Zyklus beginnt, notiert er folgende Zeilen: „Jetzt, im April 1978, bereite ich mich auf die Dreharbeiten zu Liebe auf der Flucht vor. Der Untertitel könnte lauten: ‚Antoine Doinel schlägt wieder zu’, ist es doch bereits sein fünfter Leinwandauftritt. Er ist jetzt in seinen Dreißigern. Sein erster Roman, ‚Liebe auf der Flucht’, ist kein Bestseller. (...) Antoine verdient sein Geld mit Korrekturlesen in einer Verlagsdruckerei.“
Er wird von Christine (wieder gespielt von Claude Jade) geschieden, trifft seine unglückliche Jugendliebe Colette (wieder Marie-France Pisier) und wird durch einen älteren Herren an seine verstorbene Mutter und damit an seine schwere Jugend erinnert. Und dennoch geht Doinel nicht unter. „Es ist wegen [der Schallplattenverkäuferin] Sabine, dass Doinel immer noch verliebt ist, und weil er immer noch verliebt ist, ist er immer noch am Leben“, so Truffaut.
Truffaut setzt auf die Erinnerungen Doinels, die er durch Rückblenden erzählen will. Die Vorgängerfilme bieten dafür ausreichend Material. „Das war die Möglichkeit, die ich ausnutzen wollte: Einen Jungen, dem man in verschiedenen Phasen seines Lebens immer wieder in der gleichen Figur auf der Leinwand begegnet ist, in einer neuen Geschichte zu erzählen und ihn mit realen Filmbildern gleichzeitig als Mann, Jüngling und Knabe zu zeigen.“
Die ersten Drehbuchfassungen stammen aus der Feder von Marie-France Pisier und Suzanne Schiffmann. Somit schreibt sich die Darstellerin der nun erwachsenen Colette selbst ihre Rolle auf den Leib. Dieses Vorgehen ist Resultat eines Gespräches zwischen Truffaut und Pisier, in dem der Regisseur seiner Schauspielerin gesteht, dass die kürzeste Episode des Antoine- Doinel-Zyklus jene ist, die ihn am meisten rührt.
Die eigentlichen Dreharbeiten sind mit nur vier Wochen erstaunlich schnell vorbei. Der Schnitt dauert umso länger, ist der Aufbau der Geschichte mit ihren Montagen und Rückblenden doch äußerst komplex. Auch ist Truffaut bis zur Premiere des Films hart gegen sich und seine Mitarbeiter, glaubt er doch, dass Liebe auf der Flucht zum Scheitern verurteilt ist. Seine ganze Hoffnung liegt auf der neuen Frauenrolle, der 20-jährigen Sabine, die als Figur helfen soll, keinen ausschließlich rückwärts gewandten Film zu erzählen. Die Kritiker und auch das Pariser Publikum stehen dem letzten Doinel-Film wohlwollend gegenüber.
Das geringe Budget ist schnell eingespielt, und Truffaut erwirtschaftet mit seiner Produktionsfirma einen stattlichen Gewinn. Gefragt, ob Liebe auf der Flucht wirklich das Ende des Antoine-Doinel-Zyklus sei, antwortet Truffaut einige Zeit später: „Obwohl der Film auf viele melancholische Momente setzt – und fast wie eine Biografie daherkommt – wollte ich einen ausgesprochen glückliches Ende zeigen. Gleichzeitig wird dadurch aber auch klar, dass wir nicht mehr zurückkehren werden. Der Film ist eine Zusammenfassung und damit auch ein Abschluss.“
Max Honert