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Was würde Fassbinder zum neuen Berlin Alexanderplatz sagen?

Am 16. Juli 2020 startete Burhan Qurbanis äußerst zeitgemäße Adaption von Döblins Jahrhundertroman. Schon vor 40 Jahren entstand Rainer Werner Fassbinders kongeniale Interpretation… Beide Versionen haben ihren eigenen Reiz.

Filmgeschichten 24. Juli 2020

Es gibt nicht wenige Situationen, in den man sich als Bewunderer der Filme von Rainer Werner Fassbinder fragen kann, was RWF wohl zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen sagen würde. Anders ausgerückt: welchen Film er gegen sie in Stellung brächte. Fassbinders Credo lautete bekanntlich, in jede Richtung zu schießen. Das heißt, dass er stets zwischen den Stühlen saß, sobald er auf dem Regiestuhl Platz nahm – oder seine Haltung in einer Interviewsituation äußerte. Am 31. Mai diesen Jahres wäre Fassbinder 75 Jahre alt geworden – und am 16. Juli kam nun eine neue Adaption jenes "Jahrhundertromans" in die deutschen Kinos, dessen Verfilmung Fassbinder 1980 als 14-teilige Serie inszenierte – mit Günter Lamprecht in der Rolle des Kleinkriminellen Franz Biberkopf, der aus dem Gefängnis entlassen wird und ein anständiger Mensch werden möchte. Besonders eindrucksvoll, wenn man sich ein Bild von Fassbinders Arbeit machen will, ist die in unserer Remastered-Edition enthaltene Doku Berlin Alexanderplatz – Beobachtungen bei den Dreharbeiten. Da wird deutlich, wie konzentriert und detailversessen RWF zu Werke ging, um der eigenen Idee der Umsetzung von Alfred Döblins Geschichte gerecht zu werden. Und keinen anderen Maßstab würde Fassbinder nun wohl anlegen, wenn er Burhan Qurbanis mutige, aktuelle Version von Berlin Alexanderplatz kommentieren sollte.

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Viel wird ja mittlerweile darüber gesprochen, dass manche politischen Auseinandersetzungen und das damit einhergehende Schwächeln der "Volksparteien" in Deutschland an die Zeit der Weimarer Republik erinnerten. Der Vergleich mag bei genauer Betrachtung hinken, jedoch schafft es Fassbinders Serie bis heute, den Bogen vom Ende der 1920er Jahre, in denen der Roman entstand und spielt, über den Beginn der 1980er Jahre, in denen der Aufstieg des Neoliberalismus begann und der Kalte Krieg noch eine Weile mit harten Bandagen geführt wurde, bis in die Gegenwart zu spannen. Auch weil heute noch einige (Klassen-)Phänomene zu beobachten sind, mit denen sich Biberkopf, Mieze und die anderen bereits in den ach so Goldenen Zwanzigern herumschlagen mussten – und die auch Fassbinder kurz vor seinem Tod umtrieben und zu einer seiner künstlerischen Höchstleistungen trieben. Er war schließlich eine Art Visionär.

Es ist nicht leicht, sich dem Teufel zu entziehen

Dass der Mensch an sich nicht schlecht sei, die Verhältnisse es ihm aber nicht immer erlauben, seine gute Seite hervorzukehren – das ist schon eine der Kernaussagen von Alfred Döblins Roman. Etwas blumiger formuliert: "Es ist nicht leicht, sich dem Teufel zu entziehen, wenn man ihn einmal zu sich eingeladen hat." Das muss auch der moderne Franz Biberkopf feststellen. Bei Qurbani heißt er Francis, ist eine afrikanischer Refugee und wird gespielt von Welket Bungué. Auf dem Mittelmeer verliert der Migrant aus Guinea-Bissau seine Freundin Ida, als er kurz vorm Ertrinken den eigenen Hals rettet. Ist es Mord? Und wer hat diese Tat letztlich zu verantworten? Wie Döblins Antiheld vollzieht auch Francis eine moralische Kehrtwende, scheitert allerdings an den Umständen, die ihn kriminalisieren – und die auch an Idas Tod nicht unschuldig sind.

Hanna Schygulla in Fassbinders "Berlin Alexanderplatz" © @Studiocanal

Hanna Schygulla in Fassbinders "Berlin Alexanderplatz" © @Studiocanal

Wo Fassbinder historisch blieb, um der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft den Spiegel vorzuhalten, wagt Qurbani eine radikale Anpassung des Stoffes an die Jetztzeit, in der das Schicksal der Flüchtenden in Europa eins der wichtigsten Themen ist. Nicht immer kann man ganz sicher sein, ob der deutsch-afghanische Regisseur mit Klischees spielt, wenn er ein Milieu von durchweg kriminellen Migranten zeichnet. Aber Fassbinder hätte diese Zuspitzung bestimmt gefallen. Denn schon bei Döblin bewegen sich die Figuren durch eine Welt, die von den Schlagzeilen der Zeitungen und den Slogans der Reklametafeln gemacht wird. Qurbani glaubt an einen Ausweg aus dem Dilemma und sucht ihn im Film – das hat er mit Fassbinder gemeinsam. Aber er hat auch verstanden, dass diese Claims und Headlines heute noch viel lauter schreien und ihre Wahrheiten noch verlogener scheinen als in den 1920ern oder den 1980ern, während die Polit- und Medienkritik selbst schon wieder irre Züge annimmt, wenn sie in Verschwörungstheorien abdriftet. Darüber hinaus ist sein dreistündiger Berlin Alexanderplatz ein Film noir, der sich gewaschen hat. Auch damit hätte Fassbinder kein Problem.

WF

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