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Günter Lamprecht: Kühner Melancholiker

Der Charakterdarsteller, unter anderem bekannt durch seine Rolle als Franz Biberkopf in der Fassbinder-Adaption von Berlin Alexanderplatz ist mit 92 Jahren gestorben.

11. Oktober 2022

Wenn in zeitgenössischen autobiografischen Schriften fragmentierte Leben geschildert werden, dann zerfallen sie auch beim Lesen oft – vom großen Ganzen einer gesellschaftlichen Norm ausgehend – in tausende Gedankensplitter. Eine Vita wie die des am 4. Oktober 2022 im Alter von 92 Jahren gestorbenen Schauspielers Günter Lamprecht dagegen liest sich, als wäre erst sie ursprünglich aus lauter Scherben zusammengefügt worden, und reihe sich in der Herausbildung einer besonderen Gestalt nun nahtlos in die Geschichtsbücher ein. Dazu passt, dass man einen Meister seines Fachs, dessen Ausstrahlung noch alles erlernte Können übertrifft, als Charakterdarsteller bezeichnet. Und eine Paraderolle war für ihn die des Franz Biberkopf in der Serien-Verfilmung von Alfred Döblins Weltroman Berlin Alexanderplatz durch Rainer Werner Fassbinder. Jener Biberkopf, der frisch aus dem Gefängnis entlassen gleich die Fesseln des Überlebens in der Großstadt fürchtet, all die Fallstricke, falschen Freunde und losen Enden alter Rechnungen, die er beim Absitzen seiner Strafe hinter sich hatte hängen lassen. Den eigenen Charakter formte Lamprecht früh. Seine Herkunft aus dem Proletariat ist ebenso prägend wie seine Beteiligung am Zweiten Weltkrieg als Kindersoldat. "Ein höllisches Ding, das Leben" nannte Lamprecht den zweiten Teil seiner Memoiren nach einem Zitat von Alfred Döblin, der erste Teil ließ hinter den bitteren Erfahrungen jedoch eine nie versiegende Sehnsucht erkennen: "Und wehmütig bin ich immer noch. Eine Kindheit in Berlin".

Günter Lamprecht: Ein echter Mensch in einer "Welt am Draht" © Studiocanal

Günter Lamprecht: Ein echter Mensch in einer "Welt am Draht" © Studiocanal

Der Weg führte Lamprecht eher durch Zufall zur Schauspielerei – jemandem mit seinem Background ist das Hineinschlüpfen in andere Figuren, das Vorgaukeln ein anderer zu sein, als man sich erst noch anschickt zu werden, nicht in die Wiege gelegt. So einer spielt sich selbst, bis er weiß, wer er ist. Das tat Lamprecht auch in Fassbinders Welt am Draht – wo keiner weiß, wer oder was er wirklich ist, weil da in Wahrheit die Welt nur eine Simulation ist. Fassbinder wusste Lamprechts kühne Authentizität (das Ausstellen des eigenen aus der Arbeiterklasse stammenden Ichs in einem Milieu, das die Arbeit am Diskurs für die härteste Arbeit hält) zu schätzen, besetzte ihn auch in seinem grandiosen Die Ehe der Maria Braun. Jahrelang kam Lamprecht als knorrig-melancholischer Tatort-Kommissar zu uns ins Wohnzimmer, zuletzt spielte er auch in einer Staffel der Erfolgsserie Babylon Berlin mit, so sehr war er mit den alten Zeiten verschmolzen, vermutlich weil er ihre Erde an seinen Schuhen durch sämtliche Rollen schleppte, dass man ihn in diesem 1920er-Jahre-Szenario nicht übergehen durfte (und auch im Fiktiven wird er dabei zum Milieuflüchtling, da er den Aristokratengeneral Paul von Hindenburg mimt, der zudem noch Hitlers Machtergreifung begünstigte). Aus Lamprecht ist einer geworden. Einer, den man auch in Zukunft so schnell nicht vergessen wird, weil er in all dem Werden und Vorwärtskommen bei sich selbst geblieben ist. Er möge in Frieden ruhen.

WF

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